Offener Brief an Bundeskanzler Scholz zur Deeskalation im Ukraine-Krieg
Bundeskanzler Olaf Scholz Bundeskanzleramt Willy-Brandt-Str. 1 10557 Berlin |
21.04.2022
Offener Brief
Deeskalation jetzt!
Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.
Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.
Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.
Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.
Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.
Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.
Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.
So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.
Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.
Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.
Hochachtungsvoll,
PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg
Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte
Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!
Joachim Guilliard, Publizist
Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013
Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin
Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD
Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe
Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für
Konfliktforschung in Marburg
Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO
Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor